Teil 16: EINS ZU SIEBEN

Vor dem Spiel Brasilien gegen Deutschland war ich ungewöhnlich nervös. Diese Weltmeisterschaft ging mir echt nah, nicht zuletzt wegen unseres Projekts wmrio.de. Aber trotzdem konnte ich mir den großen Grad meiner Nervosität nicht damit erklären. Irgendetwas lag in der Luft!

 

Dabei lief doch alles wie am Schnürchen. Am Vormittag hatte ich dem NDR noch ein Liveinterview gegeben. Das deutsche Trikot, das ich mir in Flensburg gekauft hatte, war rechtzeitig trocken geworden. Plätze beim Fan-Kiosk waren reserviert. Die Nervosität wollte aber nicht schwinden. Auch nicht auf dem Weg zum deutschen Fan-Kiosk, den ich mit meinem Bruder, der am Morgen aus Rom kommend in Rio eingetroffen war, eingeschlagen hatte. Im Meer der gelben Trikots kam ich mir mit meinem deutschen Flamengoshirt wie ein feindlicher Eindringling vor.

 

Was für eine fanstarke Oase war der deutsche Kiosk in Leme geworden! Gestern sah ich das Match Argentinien vs. Holland im Sindicato do Chopp, dem Treffpunkt der Holländer und musste feststellen, dass die Holländer das langweilige Spiel und auch die Niederlage erstaunlich gelassen ertrugen. Ganz anders die deutschen Fans am Dienstag, die wir ja auch in Bild und Ton auf unserem Videoblog eingefangen haben. MC Gringo heizte vor Spielbeginn das ohnehin sehr selbstbewusste deutsche Publikum mit seinem deutsch-portugiesischen Rap Hit „Deutscher Fußball ist geil!“ noch weiter auf. Ich blieb nervös. Es braute sich etwas zusammen, wenn ich gewusst hätte was! Ein ungewöhnlich frischer Wind fegte durch den Kiosk und als ich mich umdrehte, sah ich ein Unwetter aufziehen.

Himmel über Rio kurz nach Spielbeginn
Himmel über Rio kurz nach Spielbeginn

Das schien aber weiter niemanden zu kratzen. Ich kannte die Vorzeichen gut und wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ALLES im tropischen Regen absaufen würde. Doch die Party sollte trotz des apokalyptisch anmutenden Himmels losgehen. Wie fühlte sich das an? War es das, was in der Luft war? Schon Jules Verne beschrieb in seinen Romanen das Phänomen der spürbaren Elektrizität vor tropischen Regenstürmen. Dann auf einmal: BAMM - das erste Tor. Und dann, war das noch die Wiederholung des ersten Tors? Nein – BAMM - das zweite Tor. BAMM - das dritte Tor. Beim vierten deutschen Tor ging dann ein heftiges Schlucken durch die Runde und ich war nicht der Einzige, der eine heftige Resonanz von Trauer in sich spürte. Selbst die brüllend jubelnde deutsche Fan-Oase bot keinen Schutz vor einem Gefühl, das den Hals zuschnürte. Es war die spürbare Trauer und der Abschied von jeder brasilianischen WM-Hoffnung, der in Rio de Janeiro die Luft negativ elektrisierte. Meine brasilianische Schwägerin hatte genug und machte sich auf den Heimweg. Meine Frau Delaine musste da bleiben, wir wollten ja noch filmen! Der Halbzeitstand von 0:5 war für Brasilien bereits so demütigend, so unglaublich! Thomas, mein Bruder fing einige Stimmen für unseren Videoblog ein (Leider hatte ich vergessen das Mikrofonkabel beim Interview des Ehrengastes Willi Lemke in die Kamera zu stecken, so dass diese Szene in den Blog unberücksichtigt bleiben musste). Der Rest des Abends ist in meiner Erinnerung nur noch ein Gemisch aus Euphorie, Jubel, Unglauben und von Absaufen. Nach dem Spiel öffnete sich der Himmel. Das unterirdische Kiosk-Klo war einer der wenigen wirklich trockenen Zufluchtsorte, obwohl auch dort die Füße langsam nass wurden, denn das Wasser lief die Treppen herunter.

Treppe zum Kiosk Klo
Treppe zum Kiosk Klo

Hatte Deutschland wirklich sieben Tore geschossen? Ein Vorstoß zurück zum überirdischen Kioskgeschehen hatte die komplette Durchnässung zur Folge. Zum Glück hatte ich mein iPhone in einer Plastiktüte in Sicherheit gebracht. Hier oben war nichts mehr trocken und kalter Wind setzte ein. Jubelnde Fans drängelten sich fest aneinander in der Hoffnung, unter den Schirmen des Kiosks ein wenig Schutz zu finden.

 

War der Regensturm am Ende sogar ein Schutz für die so exponiert feiernden Deutschen? Schließlich war der Kiosk ständig zu sehen, auch im brasilianischen TV. Der Regensturm ließ aber die siegberauschten Deutschen nicht mit den am Boden zerstörten Brasilianern zusammentreffen, jedenfalls nicht im ersten Moment des Schocks.

 

Irgendwann in der Nacht gelang uns erst ein Durchbruch zu einem entfernt wartenden Omnibus und danach nahm uns – obwohl wir komplett durchnässt waren – ein Taxi mit und brachte uns nach Hause – ein weiteres Wunder!

 

Und jetzt? Nie habe ich die Cariocas so deprimiert erlebt. Alles dreht sich um die „hässliche Niederlage.“ Man schämt sich. Uns Deutschen wird gratuliert. Keine Spur von Ausreden oder Relativierungen. Gestern dann die nächste Klatsche für die Brasilianer: Argentinien im Finale! Manche Brasilianer wollen – so wie gestern schon gesehen – nichts mehr mit der WM zu tun haben, die viele erst nicht haben wollten und die sie jetzt, wo sie sich doch vom Fußball haben einfangen lassen – so gedemütigt hat. Andere wollen jetzt im Endspiel zu Deutschland halten – denn Argentinien darf auf keinen Fall gewinnen.

 

Bei aller Hoffnung auf eine rasche Erholung der Stimmung in Brasilien darf eine Tatsache nicht außer Acht gelassen werden: Eine größere als die jetzt erlittene öffentliche Demütigung ist für die Brasilianer, die ich kenne, kaum vorstellbar.

 

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